1978 veröffentlichten Jürgen Pomorin und Reinhard Junge die Ergebnisse ihrer Recherchen über die Neonazi-Szene in der Bundesrepublik Deutschland. Das Buch „Die Neonazis“ hatte 1979 bereits die 6. Auflage und wurde ergänzt durch „Vorwärts, wir marschieren zurück. Die Neonazis, Teil II“. Sie unterschieden zwischen den „Ewiggestrigen“, den „Einsteigern“, den „Mitmachern“, den „Führern“, den „Geschäftemachern“ und den „Aussteigern“.

Zusammenfassend hielten sie in der Einleitung fest.

Es gibt in unserem Land den organisierten Neonazismus. Der Haß der Neonazis gilt der Demokratie, den Gewerkschaften, wirklichen oder vermeintlichen Kommunisten. Sie wollen ein „Großdeutschland“, das nur eines heißen kann: Terror nach innen, Aggression nach außen. Und sie hoffen auf ihre Stunde, die harte Wende nach rechts.
Der Mechanismus ist wie der eines Ping-Pong-Spiels: In einem Klima der Gesinnungsschnüffelei, der Berufsverbote, der Aussperrung und Arbeitslosigkeit, in einem Land, in dem alte Nazis noch immer hohe Posten in Politik, Wirtschaft und Bundeswehr besitzen und in dessen Schulen keine echte antifaschistische Aufklärung stattfindet – in einem solchen Land gedeiht der Neonazismus. Und ihre Tätigkeit, ihre Propaganda, ihr fast legales Auftreten wiederum bereitet den Boden, auf dem reaktionäre Kräfte im demokratischen Tarnmäntelchen leichter nach rechts rücken, weiter aufrüsten, ungehemmter bespitzeln können.
Immer wieder haben wir festgestellt: Die Behörden unseres Landes verhalten sich gegenüber dem Treiben der Neonazis gleichgültig, zaghaft oder gar begünstigend. … Aber es ist kein Einzelfall, wenn Justiz und Polizei auf dem rechten Auge blind sind und die Pläne und Taten neonazistischer Terroristen wie Kavaliersdelikte oder im Grunde harmlose Streiche etwas unartiger Jungen behandeln.1Vgl. Pomorin, Jürgen/Junge, Reinhard: Vorwärts, wir marschieren zurück. Die Neonazis. Teil II, Dortmund 1979, S. 5 f.

Das wurde im Jahr 1979 (!)) geschrieben und galt für die Bundesrepublik Deutschland, nicht für die DDR.

In den Jahren bis 1990 hat sich daran kaum etwas geändert. Die in den Büchern von Pomorin und Junge beispielhaft genannten Personen konnten unbehelligt  weiter agieren, Gelder von der Wirtschaft und der öffentlichen Hand akquirieren, Nachwuchs heranziehen und – im stillschweigenden Einvernehmen mit der Bundesregierung – ab 1990 neonazistische Netzwerke auf dem Gebiet der „wiedervereinigten“ Ost-Bundesländer etablieren.

Hinzu kamen offizielle Erlasse, die es auf dem Territorium der DDR unerkannt bzw. getarnt lebenden Amtsträgern des Dritten Reiches ermöglichten, ab 1990 nachträglich einen Sieg über all jene zu feiern, die sich als Antifaschisten bezeichneten und gewillt waren, Deutschland in eine wirklich demokratische Richtung umzugestalten.

Das nach der Wende erlassene Bundesbesoldungsgesetz legt also fest, daß es nicht ehrenrührig war, den Nazis zu dienen, um so mehr aber den Kommunisten. Das Dritte Reich war ein unrechter Rechtsstaat, die erste DDR ein Unrechtsstaat, und das muß sich, bitte schön, auch in der Dienststellung und im Portemonnaie abzeichnen zur ewiglichen Mahnung.2Dahn, Daniela: Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehangen in der Einheit, Hamburg 1997, S. 37.

Konkret zeigte sich das für die Mehrzahl der ehemaligen und im Osten gebliebenen DDR-Bürger:
– Nichtanerkennung von Dienstjahren
– Nichtanerkennung von in der DDR erworbener Rentenansprüche
– Abstrafung ganzer Berufsgruppen.

Die mehrfache Degradierung erzeugte bei sehr vielen Menschen Empörung und Verbitterung. „Ein Teil reagierte gedemütigt und resigniert, ein anderer versuchte seine Wut konstruktiv zu machen.“3Vgl. ebenda, S. 39. Die von ihnen geschaffenen, sich bei allen Forderungen zur Demokratie bekennenden Zusammenschlüsse wurden von der Politik und den mit ihnen verbundenen Medien von Anfang an bekämpft. Ihre Protagonisten werden bis heute als „Ewiggestrige“ abgefertigt.
Anders erging es jenen, die ihrer DDR-Vergangenheit abschworen, sich zur Denunziation ihrer einstigen Landsleute, Kollegen und Nachbarn bereiterklärten und sich den neuen Herren bedingungslos unterwarfen. Je weiter rechts sie sich positionierten, umso größer ihre Chancen auf ein finanziell gesichertes Leben. Sie lernten, und gaben dies auch an ihre Kinder weiter: Aktiver Widerstand lohnt sich nicht. Erst recht nicht gegen politische Rechte, egal, wie extrem sich diese positionierten.

Angesichts deutscher Zurückhaltung in Sachen Zivilcourage eine kontraproduktive finanzielle, ideologische und politische Stimulierung.4Vgl. ebenda, S. 40.

Und der Gesetzgeber erließ immer neue Gesetze bzw. verfasste Begründungen, die eines klar erkennen ließen:

Wenn ein junger Wehrmachtsangehöriger oder NS-Staatsdiener später Antifaschist wurde und in der DDR einen der zahlreichen Berufe ergriff, die heute als staatsnah gelten, so wird er bei der Berechnung seiner heutigen Rente belohnt für seine Leistungen unter Hitler, aber bestraft für die unter Honecker. 5Ebenda, S. 43.

Eine Bundesrepublik Deutschland, die sich nach der Wiedervereinigung zu einem „konsequenten Antifaschismus“ bekannt hätte, wäre gezwungen gewesen, sich mit dieser Ungleichbehandlung auseinanderzusetzen. Sie hätte damit aber auch ein Mittel zur „Kritik totalitärer Tendenzen der DDR“ in der Hand gehabt. Doch dazu war und ist die bundesdeutsche Politikelite nicht in der Lage. Also: Lieber auf die Ostdeutschen einprügeln und sie für all das verantwortlich machen, was in der Geschichte der BRD versäumt wurde.

1991 hatten Studien ermittelt, daß rassistische und neofaschistische Einstellungen in Ostdeutschland signifikant geringer sind als im Westen.

Bis heute fragt man sich, wie das Wunder zu erklären sei, daß ein unmündig gehaltenes Volk mit so viel politischer Reife und Besonnenheit eine so friedliche Revolution vollbracht hat, Wer dabei war, weiß, wie Wunder entstehen. Es gibt rationale Erklärungen: Wandzeitungen, Protestbriefe, Unterschriftensammlungen, Gesprächskreise, Kirchengemeinschaften, Kerzendemos und Mahnwachen – die „Waffen“ der friedlichen Revolution sind ganz wesentlich unter dem Schutzschild des Antifaschismus geschmiedet worden und haben sich letztlich folgerichtig gegen die Verräter an einer wahrhaft antifaschistisch-demokratischen Ordnung gerichtet. Ohne diese verinnerlichte Zivilcourage wäre die Wende so nicht möglich gewesen.
Ist es dieses Widerstandspotential, was heute gefürchtet wird? 6Ebenda, S. 68 f.

Die „verinnerlichte Zivilcourage“ wurde den Ostdeutschen in einer seit über 30 Jahren praktizierter Entmündigung ausgetrieben. Der mit ihr verbundene Antifaschismus verlor damit eine wichtige Grundlage.
Die in das neue Deutschland, im Osten der Bundesrepublik hineingewachsenen und hinein wachsenden Generationen kennen „Antifaschismus“ nur noch als etwas, wovor man sich hüten sollte, wolle man Karriere machen oder in Ruhe leben. „Zivilcourage“ gereicht dem Couragierten heute nur zum Nachteil! Auch eine Erkenntnis, an die sich die Ostdeutschen nach 1990 gewöhnen mussten. Setzen sie sich gegen Angriffe auf ihr Eigentum oder gegen ihre Person zur Wehr, sind sie die Schuldigen. Und nicht der Angreifer! Ähnliche Erfahrungen müssen sie täglich mit der Politik und der von ihr gesteuerten Verwaltung und mit den Medien machen.

Also:
Lieber nicht couragiert. Lieber rechts, als links.

 

  • 1
    Vgl. Pomorin, Jürgen/Junge, Reinhard: Vorwärts, wir marschieren zurück. Die Neonazis. Teil II, Dortmund 1979, S. 5 f.
  • 2
    Dahn, Daniela: Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehangen in der Einheit, Hamburg 1997, S. 37.
  • 3
    Vgl. ebenda, S. 39.
  • 4
    Vgl. ebenda, S. 40.
  • 5
    Ebenda, S. 43.
  • 6
    Ebenda, S. 68 f.